Identität nach innen - Differenz nach außen
Der religiös-weltanschauliche Pluralismus wird von uns grundsätzlich bejaht. Er gestattet die Vielfalt und ein Miteinander unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen und ihrer Wahrheitsansprüche. Auch die Kirche steht vor der Aufgabe, für ein gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben einzutreten. Dazu gehört auch die Achtung der Freiheit anderer Wahrheitsansprüche. Auch dann, wenn sie dem eigenen Bekenntnis widersprechen.
Wahrheitsansprüche sind immer an die Perspektive der je eigenen Weltsicht gebunden, es gibt keine neutrale, über geordnete Position, wenn sich Menschen unterschiedlicher Weltsichten begegnen. Die Identität der je eigenen Sicht erfährt eine Differenz in der Perspektive der anderen.
Die Spannung zwischen Identität und Differenz kann konstruktiv bearbeitet werden. Dafür hat sich das Wortpaar "Dialog" und Unterscheidung" eingebürgert.
Zunächst ist ein Perspektivwechsel notwendig. "Dialog" bezeichnet hier den Versuch, sich in die Binnenperspektive eines fremden Glaubens bzw. einer fremden Weltanschauung hineinzudenken, auch zu fühlen. Mit dem Ziel, ihre inneren Plausibilitätsstrukturen und Ausdrucksformen so zur Kenntnis zu nehmen wie es die entsprechenden Vertreter*innen selbst sehen.
Dazu gehören:
die jeweilige Praxis: Was geschieht dort überhaupt? (was macht wer wann?)
die Symbole: Wo kommen zentrale Aspekte zum Ausdruck?
die „Story“: Wie erzählt man sich die Entstehung der Gemeinschaft? "Storys" schaffen Identität.
und die Weltanschauung bzw. Theologie: Wie werden zentrale Aspekte formuliert?
Unter Berücksichtigung dieser vier Zugangsweisen kann man ein Gespür dafür entwickeln, wie diese Religiosität oder Weltanschauung „funktioniert“.
Ein zweiter Schritt ist die "Unterscheidung": Aus der der Sicht des eigenen Glaubens kann eine Außenperspektive entwickelt werden, bei der die andere Sichtweise von zentralen Aspekten des eigenen Glaubens befragt wird.
Zu diesen zentralen evangelischen Aspekten gehören:
das Verständnis von Gott, der Heil schafft, und von der Welt und den Menschen als Gottes Geschöpfe
das bedingungslose und voraussetzungslose Heil in Christus (Rechtfertigung)
das Wissen um die Gebrochenheit des menschlichen und des christlichen Lebens und damit auch um die Ambivalenz des Religiösen
der Zusammenhang von Glaube und Vernunft
das universale Ethos der Nächstenliebe.
Diese Arbeit ist eine theologische Reflexion auf die Existenz und die Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen. Ausgehend vom Wissen um die eigenen perspektivische Gebundenheit und Begrenztheit reflektiert sie die grundsätzliche und oft bleibende Differenz zwischen der Selbstdeutung einer Weltanschauung und deren Fremddeutung in einer Außenperspektive. Die Spannung zwischen der Binnen- und der Außensicht lässt sich nie ganz auflösen, denn es gibt keine neutrale Position im religiös-weltanschaulichen Pluralismus.