Sekten- und Weltanschauungsfragen
Ein westfälischer Blick

Pfingstliche-charismatische Bewegungen und Gemeinschaften in Westfalen

Versuch einer Typologie

1) Klassische Pfingstkirchen gab es von Anfang an auch in Westfalen. Die Christus Gemeinde Velbert (im Gebiet der Rheinischen Landeskirche) beispielsweise gehört zu den ältesten deutschen Pfingstgemeinden. In Münster, Bielefeld, Gelsenkirchen und anderswo gibt es Gemeinden des Mühlheimer Verbands. Die Spannbreite pentekostaler Ausdrucksformen ist hier sehr groß und pendelt zwischen Glossolalie, Pfingstjubel oder Fahnen schwenken einerseits und auf der anderen Seite evangelikaler Frömmigkeit mit einem Schwerpunkt im Lobpreis.

2) Internationale Gemeinden, deren Herkunft auf Afrika oder Asien verweist, sind oft auch klassisch pfingstlich geprägt. Nur teilweise gehören sie zu den IKK-Gemeinden (z.B. die Chinesische Allianzgemeinde Dortmund, die afrikanische Lighthouse Christian Fellowship in Bielefeld oder die koreanische Haninkirche in Bochum), andere bleiben unabhängig und ohne ökumenische Bezüge. Die Frömmigkeit der farsi-sprechenden Gemeinden hat eine eher neucharismatische Ausprägung.

3) Im Gefolge der Jesus-People- und der Church-Planting-Bewegung sowie der John Wimber-Kongresse und seiner Vineyard Christian Fellowship kam es auch in Westfalen zu zahlreichen neucharismatischen Gemeindegründungen wie z.B. die Calvary Chapel Siegen, die FCJG Lüdenscheid oder christliche Zentren wie in Bielefeld. Sie verzichten teilweise auf die klassischen pfingstkirchlichen Topoi wie Geistestaufe und Glossolalie und rücken stattdessen Heilung, Prophetie, Befreiungsdienst (aus dämonischer Besessenheit) und Formen des Toronto-Blessings als Manifestationen des Heiligen Geistes in den Fokus.

4) Ein weiterer Typus ist am modernen urbanen Lifestyle orientiert. Er verzichtet noch stärker öffentlich auf spezifisch charismatische Erlebnisformen, pflegt aber eine emotional gefärbte Frömmigkeit und ein intensives Gemeinschaftsgefühl. Sie finden sich in der Regel in universitären Ballungsräumen in Gestalt des ICF Bielefeld oder der „Kirche im Pott“ in Bochum mit Tochtergemeinden in Münster und Dortmund.

5) Unter dem in den letzten Jahren stärker werdenden Einfluss der Bethel Church in Redding / Kalifornien betonen einige meist neucharismatische Gemeinden die „übernatürlichen“ Wirkungen des Lebens im Geist. Sie bieten „supernatural ministries“, beanspruchen Wunder demonstrieren zu können und erwarten große Erweckungen. In diesem Zusammenhang hat beispielsweise die Jugendmissionsgemeinschaft (jmg) Bielefeld 2016 und 2017 die Tour der „Holy Spirit Night“ nach Westfalen geholt.

6) Ein weiterer Typus sind der charismatische Zweig der in Westfalen besonders zahlreichen Aussiedlergemeinden. Neben den traditionell pfingstkirchlich orientierten Freien Evangeliums Christen Gemeinden gibt es auch Abspaltungen und Neugründungen aus mennonitischem Kontext wie z.B. die „Hütte Davids“ oder das „Wera-Forum“ aus Duisburg mit einer westfälischen Tochtergemeinde in Castrop.

 

Ökumenische Aspekte

In allen Gemeinden spielt die organisatorische Einbindung in größere regionale Strukturen nur eine untergeordnete Rolle. In Westfalen gibt es wie auch sonst in Deutschland Mitgliedschaften etwa im BfP von sehr unterschiedlichen Gemeinschaften und es verbinden sich hier internationale Gemeinden, die „Kirche im Pott“ und die Christus Gemeinde Velbert, deren Pastor ein Vizepräses des BfP ist.

Entsprechend unterschiedlich sind auch die ökumenischen Einbindungen, die sich in der Regel an gemeinsamen Projekten orientieren und oft in der jeweiligen lokalen Evangelischen Allianz umgesetzt werden.

Teilweise ist dort die Beziehung nicht ohne Spannungen. Zu Konflikten kam es in Duisburg mit dem Wera-Forum mit der Folge der Auflösung der dortigen Evangelischen Allianz oder in der Evangelischen Allianz in Bielefeld Anfang 2020, als sich die dortige Allianz-Gebetswoche zu einer Veranstaltung im neopentekostalen Gewand entwickelt hat, mit Erweckungserwartung als einzigem Thema und ausführlichem Lobpreis und Glossolalie.

2021 fand eine erste Begegnungstagung zwischen Landeskirchen und Pfingstkirchen in Bielefeld statt, organisiert vom Evangelischen Bund Westfalen-Lippe, dem igm und Vertretern der Pfingstkirchen statt. Weitere jährliche Begegnungstagungen sind in der Planung.

Weltanschauliche Einschätzung

In ökumenischen Beziehungen können wir als westfälische Landeskirche gut von unseren pfingstlich-charismatischen Geschwistern lernen, stellen sie doch richtige und wichtige Fragen und benennen bei uns oft vergessene Themen. Ihr Protest gegen einen erfahrungsarmen und geheimnisleeren, rein modernitätsverträglichen Glauben und ihre Skepsis gegenüber einem institutionalisierten Gewohnheitschristentum sind ja berechtigt und fordern uns heraus. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass diese Themen ambivalent sind. Emotionale Erfahrungen einseitig auf den Heiligen Geist zurückzuführen, verliert leicht aus dem Blick, dass diese Phänomene allgemein menschlicher Natur sein können. Sie sind und bleiben zweideutig, weil sie zu den Möglichkeiten geschöpflichen Existierens gehören. Emotionalität ist kein geistliches Kriterium für sich, sondern bedarf der – theologischen – Einordnung. Das gilt besonders dort, wo man sich auf spektakuläre Manifestationen konzentriert und dabei die Ambivalenz religiöser Erfahrung übersieht, die sich auch in der Gebrochenheit des menschlichen wie des christlichen Lebens zeigt.1 Dabei wird zu leicht das Böse nur außerhalb des Christen und der christlichen Gemeinde verortet.

Die Orientierung an einer modernen, oft urbanen Popkultur besonders in den genannten Lifestyle-Gemeinden kann sicherlich nicht überall übertragen werden, provoziert aber die Frage, welche landeskirchlichen Traditionen sich mit diesen modernen popkulturellen Markern verbinden lassen. Besonders der Feier- und Erlebnischarakter pentekostaler Gottesdienste mit seiner auch körperbetonten ganzheitlichen Lobpreiskultur könnte ein gutes Gegengewicht zu unserer hohen Intellektualisierung darstellen. Der partizipatorische Charakter pentekostaler Gottesdienste und das Einbeziehen vieler Beteiligter, seine medial geprägte und die allgemein anschlussfähige Alltagssprache und Bildwelt könnten auch landeskirchliche Praxis beleben.

Problematisch bleiben dabei aber besonders neopentekostale Tendenzen, in denen

  • die Gründerpersonen in den Fokus rücken und ihnen eine besondere „apostolische Vollmacht“ attestiert wird

  • Prophetie in Verkündigung und Seelsorge nicht mehr hinterfragt werden darf

  • spektakuläre Erlebnisse als geistliche Manifestationen demonstriert werden

  • enthusiastisches Erleben zur geistlichen Norm erhoben wird

  • überzogene Heilungsversprechen und Erweckungserwartungen geweckt werden

  • und ein einseitiges dualistisches Weltbild im Mittelpunkt steht mit der Tendenz zum Fundamentalismus und zur Machbarkeit pentekostaler Erfahrungen.

1Der Religionspsychologe Bernhard Grom weist zu Recht darauf hin, dass sich „religiöse“ von von profanen zwischenmenschlichen Gefühlen weder in ihren motivationalen noch in ihren Ausdruckskomponenten und auch nicht in neurophysiologischer Hinsicht unterscheiden, sondern nur in der kognitiven Komponente. Ohne das kognitive Referenzsystem ist keine religiöse Erfahrung denkbar. Erlebnisse sind folglich dann religiöse Erlebnisse, wenn sie von den erlebenden Personen als „religiös“ gedeutet werden, vgl.Bernhard Grom: Religionspsychologie, München 2007, 198f. Ausführlicher zu diesem religionspsychologischen Aspekt vgl.: Andreas Hahn: Enthusiastisches Erleben. Neopentekostale Spiritualität in psychologischer und theologischer Perspektive, in: Materialdienst der EZW 11/2017, 405-408.

 

Interkulturelle Perspektiven

Möglicherweise bietet die interkulturelle Entwicklung der Kirche in Westfalen neue Ansatzpunkte für die Begegnung mit pfingstlich-charismatischen Bewegungen und Gemeinschaften. Erhellend und wegweisend könnten dabei nicht zuletzt auch die Erkenntnisse der internationalen pentekostalen Theologie werden – auch wenn deren Rezeption in Deutschland noch aussteht.1

Beispielsweise zeigt sich, dass ekstatische Praktiken wie Glossolalie und Exorzismus in eine kontextuelle Rationalität eingeschrieben nicht länger einfach als prä-moderne Ausdrucksformen verstanden werden müssen.2 In pfingstlichen Gottesdiensten bekommen sie einen klar definierten Ort. Durch den Einbezug historisch-kritischer Bibelexegese ermöglicht es beispielsweise die Redaktionskritik, das für die Pfingstkirchen wichtige lukanische Doppelwerk theologisch zu profilieren und Lukas nicht nur als Historiker, sondern auch als Theologen mit einer spezifischen Sicht auf das Phänomen der Glossolalie zu verstehen. Andere systematisch-theologische Diskurse statten die Glossolalie mit sakramentaler Qualität aus, die eine rein subjektivistische Engführung verhindern. Und auch sprachphilosophisch werden bezugnehmend auf Zeichentheorie (Husserl) Hermeneutik (Heidegger, Gadamer) und Sprechakttheorien (Austin, Searle) neue Wege beschritten: Glossolalie zeigt sich dabei als ein Grenzfall der Sprache, als ein Widerstandsdiskurs gegen sprachphilosophische Kategorien.

Auch Dämonenglaube und Exorzismus rekurrieren auf rational rekonstruierbare Erklärungsmuster. In äthiopischen pentekostalen Kirchen sind Exorzismen in zwei festen liturgischen Kontexten verortet: als Teil der Anbetungszeit und als kurative und diagnostische Handlung im Heilungsteil. Im exorzistischen Präludium des pfingstlichen Gottesdienstes bekommt der Kampf zwischen Gott und Teufel einen liturgischen Ort – Gottes Geist kann, territorial verstanden, Raum gewinnen – und eine liturgische Zeit – als ein Akt der Vorbereitung. Beides soll störende Einflüsse von außen fernhalten. Soteriologisch kommt das Verhältnis von geglaubtem Heil und körperlichem oder psychischem Wohlbefinden oder nach der Macht der Sünde in den Blick. Mit diesen Konzepten gelingt eine kulturelle Integration der traditionellen Kosmologie in das afrikanische Christentum. Geister bleiben hier machtvolle Geister – es gibt sie nicht nur in abgeschwächter Form und sie werden auch nicht als Aberglaube abqualifiziert –, sie werden aber theologisch und liturgisch handhabbar. Damit wird auch die Befreiung von Bindungen zum Thema, diese Kirchen orientieren sich kontextuell an den Handlungsmöglichkeiten ärmerer Bevölkerungsschichten.3

 

Natürlich besteht immer noch eine große Differenz zwischen diesen theologischen Erkenntnissen und den doch eher vernakularen Praxis- und Glaubensformen der pfingstkirchlichen Basis. Das ist aber kein Spezifikum von Pfingstkirchen! Nicht jede pfingstliche Praxis ist mit hochkirchlicher Theologie vergleichbar. Auch wenn diese theologischen Einlassungen den pfingstlichen Glauben mit seiner Dämonenwelt für Außenstehende nicht unbedingt plausibler machen, fordern sie doch zumindest dazu auf, eine kontextuell anders gebundene Vernunft als solche wahrzunehmen und dabei auch die eigenen dogmengeschichtlichen und fundamentaltheologischen Voraussetzungen mit zu bedenken. In einem so zu eröffnenden Diskurs könnte man auch die inhärente pfingstkirchliche Pluralität widerspiegeln und somit grundlegendere Diskussionen sowohl innerhalb des charismatischen Christentums als auch in Begegnungen mit den Landeskirchen anstoßen bzw. vertiefen.

 

1Eine Reihe von – wenn auch sehr eklektischen – Themen bietet dabei der Sammelband: Jörg Haustein / Giovanni Maltese (Hg.): Handbuch pfingstliche und charismatische Theologie, Göttingen 2014.

2Vgl. Jörg Haustein, Wunderglaube und Rationalität in der Pfingstbewegung, in: R. Hempelmann (Hg.): Die Faszination des Irrationalen und die Vernunft des Glaubens, EZW-Texte 241, Berlin 2016, 2ff.

3Demgegenüber wird die Verkündigung eines Wohlstandsevangeliums eher im Kontext einer aufstrebenden Mittelschicht rezipiert.