Sekten- und Weltanschauungsfragen
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Aussiedlergemeinden mennonitischer Prägung

Wahrnehmungen

Ostwestfalen ist ein bundesweites Zentrum zahlreicher und großer Aussiedlergemeinden. Die Größe der Gemeinden und der Familien gestattet es, das gesamte soziale Leben innerhalb der eigenen Gemeinde stattfinden zu lassen. Erwachsene wie Kinder und Jugendliche sind täglich so stark in das Gemeindeleben einbezogen, dass Außenkontakte kaum noch möglich sind. Erkennbar sind vor allem die Frauen und Mädchen mit langen, zu Zöpfen geflochtenen Haaren und schmuckloser Kleidung, teilweise langen, dunklen Röcken. Neben sehr abgeschlossenen Gemeinden finden sich auch solche, die sich zunehmend öffnen und die Erfahrung machen, dass sie dabei ihre Traditionen bewahren können. Zunehmend gewinnt der moderne Bibelfundamentalismus an Einfluss. Einige Gemeinden gehören zur Pfingstbewegung („Freie Evangeliums Christen Gemeinden“).

Entstehung und Inhalte

Die große Zahl freikirchlich orientierter Spätaussiedler, die aus der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik zogen, fanden nur selten Anschluss an bestehende bundesdeutsche Mennoniten- oder Baptisten-Gemeinden, die ihnen zu liberal und mit ihren Gottesdiensten fremd erschienen. Die gesellschaftlichen und kirchlichen Entwicklungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihrer Individualisierung, Erlebnis- und Konsumorientierung und die neuen Herausforderungen durch eine zunehmende religiöse Indifferenz waren an ihnen vorbeigegangen. Ihre Frömmigkeit war stark von den Repressalien der sowjetischen Religionspolitik geprägt. Die enge Gemeinschaft nach innen verschaffte ihnen dort Sicherheit und prägt sie auch in ihrer neuen Heimat.

Die endlich erlangte Religionsfreiheit nutzend gründeten sie zahlreiche eigene Gemeinden, beginnend in Paderborn und von dort ausstrahlend in die Region, so dass es in Ostwestfalen zu einer einzigartigen Verdichtung von freikirchlich-taufgesinnten Gemeinschaften, Werken, Verlagen und Bildungsinstitutionen kam. Nur sehr wenige haben sich der Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden (AMG) bzw. der Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Brüdergemeinschaften in Deutschland (AMBD) angeschlossen. Ein relativ großer Verband mit 55 Einzelgemeinde und 10.000 Mitgliedern ist in Ostwestfalen der BTG-KFE.

In der sowjetischen Verfolgungssituation ohne theologische Literatur, oft sogar ohne Bibeln wurden Glaubensinhalte aus dem Gedächtnis, aus Teilen der Bibel, Liedern usw. weitergegeben und zielten auf die direkte Anwendung. So zeigt sich die Bibelorientierung in Aussiedlergemeinden als eine traditionsorientierte Mischung aus kulturellen Überlieferungsstücken, Liedern Bibelversen und bewährten Regeln. Eine sehr enge Zusammenarbeit besteht mit dem Bibelseminar Bonn und der Bibelschule Brake. Beide haben zumindest eine Nähe zum modernen Bibelfundamentalismus im Bekenntnis zur „Chicagoer Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel“ bzw. in der Vorordnung des Bibelverständnisses vor dem Glauben an den dreieinen Gott in ihren Glaubensgrundlagen.

Die Kultur der Gemeinde ist stark von russlanddeutschen Traditionen bestimmt. Musik hat in der Erziehung wie auch der Gemeinde einen sehr hohen Stellenwert. Die Gemeindeordnungen sind geprägt von zahlreichen Verboten: aufwendiger Schmuck oder Kleidungsstil ist verpönt, ebenso Vergnügungen, Alkohol- und Tabakgenuss sowie voreheliche Sexualität, was in der Praxis zu sehr jungen Eheschließungen meist innerhalb der eigenen Gemeinden führt. Gemeindezucht wird durch die Leitungspersonen durchgeführt.

Die rigide Ethik wie auch die geringe Toleranz in Glaubensfragen führt immer wieder zu Spaltungen.

Gründungen von Privatschulen

In Ostwestfalen sind die zahlreichen und großen evangelikalen Bekenntnisschulen charakteristisch

für die Aktivitäten der Aussiedlergemeinden. Bildung ist neben Familie und Gemeinde bei den Aussiedlern ein bedeutsamer Wert, daher verwundert es nicht, dass auch das Schulwesen besonders in den Blick genommen wurde. Von ihrem eigenen Wertekanon aus sahen sie das Schulwesen von einem allgemeinen Werteverlust bedroht und kritisieren die dort stattfindende Sexualaufklärung, die Akzeptanz sexueller Vielfalt, den historisch-kritischen Umgang mit der Bibel und Evolutionstheorien in den Unterrichtsinhalten. Die Gründung privater Bekenntnisschulen war aus ihrer Sicht ein folgerichtiger Schritt.

Hier wurden Lehrpläne und Unterrichtskonzepte entwickelt, die christliche Glaubensinhalte evangelikaler Prägung im Schulalltag umzusetzen beanspruchten. Teilweise beziehen sie sich auf die Glaubensbasis der Evangelischen Allianz, es finden sich aber auch fundamentalistische und kreationistische Aspekte. Die persönliche Glaubensbeziehung der Lehrkräfte soll in den Unterricht mit einfließen. Morgenandachten und Gottesdienste sind in den Schulalltag integriert.

Einschätzungen

Die Aussiedlerkultur reicht von gelungener Integration bis zur Ausbildung von Parallelstrukturen. Gemeinden wie Bekenntnisschulen versuchen, einen Schutzraum gegen die Einflüsse der „bösen Welt“ zu erhalten und sich zugleich den Herausforderungen der modernen Welt zu stellen. Dem dienen auch die Gemeindeordnungen und die Gemeindezucht. Was unter den Bedingungen sowjetischer Repressionen hilfreich war, kann aber in postmodernen freien Gesellschaften in Rigorismus umschlagen. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Bewahrung der Identität und bloßer Abschottung wird selten erreicht und nur wenige Gemeinden schaffen es, vorsichtig zu lernen, mit der gewonnen Freiheit verantwortlich umzugehen.

Handlungsempfehlungen

Dem Trend mennonitischer Aussiedlergemeinden, durch ihre Größe und ihr Angebot eine von der übrigen Gesellschaft fast völlig abgeschottete Existenz zu führen, sollte man entgegenwirken und die Ansprüche separatistischer Gemeinden zurückweisen. Offene Aussiedlergemeinden sollten ermutigt werden, ihren Weg fortzusetzen und pluralitätsfähig zu werden. Wo es gelingt, sie in eine größere ökumenische Weite einzubeziehen, arbeitet man gegen einen Fundamentalismus an. Dabei können gemeinsame Veranstaltungen und Projekte geplant und durchgeführt werden, ohne auf formale ökumenische Beziehungen zu warten.

Weitere Informationen

Andreas Hahn: Integration oder Parallelgesellschaften? Privatschulen russlanddeutscher Mennoniten, Materialdienst der EZW 6/2019, 210-216.

Frederik Elwert: Evangelikale Gemeinden russlanddeutscher Aussiedler, in: Religion & Gesellschaft in Ost und West 9/2014, 19-21.

Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier Russlanddeutsche und andere postsozialistische Migranten zum Link