Neue Frömmigkeitsformen
In den Groß- und Freikirchen – häufiger noch neben ihnen – haben sich in den vergangenen Jahrzehnten christliche Frömmigkeitsformen entwickelt, die sich unter den Begriffen „evangelikal“ und „pfingstlich-charismatisch“ zusammenfassen lassen. Mit „evangelikal“ wird eine Glaubenshaltung bezeichnet, die durch Entschiedenheit charakterisiert ist und die verpflichtende Bindung an die Bibel als inspiriertes Wort Gottes hervorhebt. Pfingstler und Charismatiker unterstützen diese Anliegen und sind insofern ebenso evangelikal orientiert. Darüber hinaus praktizieren sie eine auf den Heiligen Geist und die Gaben des Geistes (v. a. Zungenrede/Glossolalie/Sprachengebet, Prophetie, Heilung) bezogene Frömmigkeit.
Wahrnehmungen
In charismatischen Gottesdiensten sind die Texte und Melodien leicht nachvollziehbar. Länger andauernde Zeiten des Lobpreises und eine neue Musikkultur sind charakteristisch. Die Lieder werden oft stehend, mit erhobenen Händen gesungen. Eine Band unterstützt den Gesang. Neben der ausführlichen Predigt sind auch Gebete um Heilung und das Rechnen mit prophetischen Worten kennzeichnend. Die gottesdienstliche Versammlung ist durch Siegesgewissheit in der Auseinandersetzung mit den Mächten des Bösen bestimmt. Im charismatischen Gottesdienst ist die Sehnsucht wirksam, in urchristliche Verhältnisse zurückzukehren (vgl. dazu Apg 1 und 2 und 1. Kor 12-14).
Inhalte
In nahezu allen historischen Kirchen, ebenso in allen Freikirchen, sind seit den 1960er Jahren charismatische Erneuerungsgruppen entstanden. Sie greifen Anliegen der klassischen Pfingstbewegung auf, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts wirkungsvoll global ausbreitete. Anders als die pfingstlerischen Bewegungen, die als „erste Welle des Heiligen Geistes“ bezeichnet wurde, will dieser „zweite Ansatz“ zu keinen neuen Kirchenspaltungen führen, sondern das Leben der Kirchen von innen erneuern. Im deutschsprachigen Bereich entstanden charismatische Erneuerungsgruppen in den evangelischen Landeskirchen (Geistliche Gemeindeerneuerung, GGE) und im Bereich der römisch-katholischen Kirche (Charismatische Erneuerung in der Katholischen Kirche), ebenso in den Freikirchen, u. a. im Methodismus und Baptismus. Neben der Ausbreitung charismatischer Frömmigkeit in den historischen Kirchen vollzog sie sich seit den 1970er Jahren auch in „konfessionsunabhängigen“ Gemeinden und Missionswerken, die theologisch nicht selten eine Nähe zur Pfingstbewegung aufweisen und sich als „überkonfessionell“ verstehen (u. a. Christliche Zentren in Frankfurt, München, Karlsruhe; Jesus Gemeinde Dresden; Gemeinde auf dem Weg, Berlin; Gospel Forum, Stuttgart; ebenso Werke bzw. Gruppierungen wie Jugend mit einer Mission und Christen im Beruf).
Religiöse Pluralisierungsprozesse haben auch das Erscheinungsbild der charismatischen Bewegung verändert. Freie charismatische Zentren und neue Gemeinden stehen heute im Vordergrund: u. a. die International Christian Fellowship (ICF) und die ursprünglich zur Pfingstbewegung (Assemblies of God) gehörende Hillsong Church. Die zahlenmäßige Verbreitung pfingstlich-charismatischer Bewegungen lässt sich nur schätzen, im deutschsprachigen Bereich gehören ihnen ca. 250 000 Personen an. Im Vergleich mit anderen Ländern bleiben die Zahlen im kontinentalen Europa eher begrenzt, obgleich in den letzten Jahrzehnten mehrere Hundert neue charismatische Zentren und Gemeinden entstanden sind.
Die zentralen Anliegen der charismatischen Bewegung kommen gleichermaßen in den innerkirchlichen Gruppenbildungen wie in den konfessionsunabhängigen Gemeinden und Werken zum Ausdruck. Sie lauten: Anbetung, Seelsorge, Evangelisation, Heilungsdienste, das Erfasst- und Erneuertwerden des ganzen Menschen wie auch der Gemeinde. Dabei wird eine auf den Heiligen Geist und die Charismen (v. a. Heilung, Prophetie, Zungenrede/Glossolalie) bezogene erfahrungsorientierte Frömmigkeit akzentuiert. Diakonische Dienste werden in enger Zuordnung zum Evangelisationsauftrag praktiziert.
Die Sozialformen, in denen sich die Bewegung konkretisiert, sind u. a. Haus- und Gebetskreise, Glaubenskurse und Einführungsseminare, Anbetungs-, Heilungs- und Segnungsgottesdienste, Kongresse. Die charismatische Bewegung zielt auf der individuellen Ebene auf die Erneuerung des Einzelnen durch die Bitte um das Kommen des Heiligen Geistes mit seinen Gaben, auf der gemeinschaftlichen Ebene vor allem auf die Erneuerung des Gottesdienstes, der nach dem Vorbild von 1. Kor 14,26 eine neue Gestalt finden soll. Zentrum und Kristallisationspunkt der individuellen wie der gottesdienstlichen Erfahrung ist das Getauft- bzw. Erfülltwerden mit dem Heiligen Geist mit enthusiastischen Manifestationen. Die angestrebte Geistestaufe bzw. Geisterfüllung wird vor allem als Bevollmächtigung zum christlichen Zeugnis verstanden. In einzelnen Ausprägungen pfingstlich-charismatischer Bewegungen verbindet sich der pfingstlich-charismatische Impuls mit der Kraft des Positiven Denkens (Positive Thinking). Bezeichnet werden diese Ausprägungen als Wort-des-Glaubens-Bewegung. Inhaltlich verbreiten sie ein Wohlstands- und Gesundheitsevangelium (Prosperity Gospel). Es ist die Überzeugung ihrer Repräsentanten, dass Realität durch die Vorstellungskraft des Geistes geschaffen wird und sich auch entsprechend verändern lässt. Überzogene Heilungsversprechen bauen dabei jedoch einen Erfolgsdruck auf, der die Gebrochenheit christlichen Lebens unterschätzt.
Einschätzungen
Die vielfältigen Ausdrucksformen charismatischer Frömmigkeit nötigen zu differenzierender Wahrnehmung und Beurteilung. In ihnen begegnen die vergessenen Themen der eigenen Glaubensorientierung. Zugleich sind sie ein ambivalentes Phänomen: Sie schaffen Verbindungen und Brücken zwischen Christ*innen verschiedener Konfessionen, verursachen aber auch Spannungen und Spaltungen. Das christliche Zeugnis, das von charismatischer Frömmigkeit ausgeht, ist anzuerkennen und zu würdigen. Zugleich sind kritische Auseinandersetzungen nötig. Die Schattenseiten der Pfingstfrömmigkeit – u. a. unrealistischer Heilungsoptimismus, Fixierung der Geisterfahrung auf außerordentliche Phänomene, Tendenz zum Dualismus – zeigen sich auch in der Glaubenspraxis der charismatischen Bewegungen.
Handlungsempfehlungen
Zwischen Erneuerungsgruppen in Kirchen und Freikirchen einerseits und Endzeitgemeinschaften oder Gruppen, die ein Wohlstands- und Gesundheitsevangelium verkündigen, andererseits bestehen grundlegende Differenzen, auch wenn es eine innere Nähe in den Ausdrucksformen der Frömmigkeit geben mag. Pauschale Orientierungen wird es für den Umgang mit enthusiastisch geprägten Gemeinschaftsbildungen nicht geben können. Die Geisterfahrung äußerte sich in der Geschichte des Christentums in verschiedener und mannigfaltiger Weise. Außergewöhnliche Ergriffenheitserfahrungen können im christlichen Leben vorkommen, sie sind jedoch für das christliche Leben nicht entscheidend. Auseinandersetzungen mit enthusiastischen Orientierungen müssen seelsorgerliche, hermeneutische, psychologische und ethische Aspekte berücksichtigen. Kritik an Fehlformen pfingstlerischer Bewegungen sollte in einer Form geschehen, die die gemeinsamen christlichen Orientierungen nicht außer Acht lässt.
Andreas Hahn / Reinhard Hempelmann Oliver Koch / Matthias Pöhlmann: Evangelische Orientierungen inmitten weltanschaulicher Vielfalt. Basisinformationen – Argumentationshilfen – Handlungsempfehlungen, hg. im Auftrag der Konferenz der Landeskirchlichen Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), 2020.